Junge Formate der Öffentlich-Rechtlichen im Norden
Klassische Recherche für die YouTube-Generation
Im ARD-Netzwerk Funk mit Reportagen für junge Menschen sind die Angebote aus Norddeutschland federführend und generieren Millionen Abonnent*innen und Online-Klicks. Doch „Y-Kollektiv“ oder „STR_F“ provozieren auch mit krassen Themen und Nabelschauen der Reporter*innen. Ist das Voyeurismus oder Innovation?
Die junge Reporterin filmt sich selbst dabei, wie sie Gewaltvideos im Netz anschaut. „Boah, das ist supereklig!“ Entsetzt schlägt sie die Hände vors Gesicht. Dann spricht die Journalistin direkt in die Kamera: „Wer schaut sich so was an?“ Begleitet von einem Kameramann trifft sich Redakteurin Carolin von der Groeben anschließend mit einem Krankenpfleger, der Gewaltvideos im Internet suchtartig konsumiert, porträtiert sein Leben voller Einsamkeit und Abstumpfung. Am Ende der Reportage „Gore-Videos“ zieht die Reporterin ihre Bilanz: „Viele Menschen, die solche Videos gucken, sind depressiv. Das macht mich nachdenklich.“
Über 760.000 Aufrufe hat das Video seit seiner Veröffentlichung im vergangenen Oktober bekommen. Erschienen ist es
auf dem YouTube-Kanal „Y-Kollektiv“, der vom öffentlich-rechtlichen Angebot Funk betrieben und dessen Beiträge in Bremen produziert werden. Funk ist der Name für ein Online-Content-Netzwerk der ARD und des ZDF, das sich an Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 29 Jahren richtet und im Jahr 2016 gestartet wurde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten sind besonders die neuen Funk-Formate aus dem Norden extrem erfolgreich. „Y-Kollektiv“ aus Bremen überschritt kürzlich als erstes Funk-Angebot die Schwelle von einer Million Abonnenten bei YouTube. Die Themen der Beiträge sind häufig provokant: Sex mit Tieren, reich mit Fortnite, drogenabhängig in Bremen, rechtsextreme Frauen. Besonders beliebt ist das Reportage-Format „STRG_F“, das der NDR für Funk produziert und auch über YouTube veröffentlicht: Hier verzeichnen Beiträge über die „Akte Bushido“ oder einen reuelosen SS-Mann bis zu fünf Millionen Aufrufe. Und investigative Recherchen sorgen hier für breite Öffentlichkeit: Die geheimen Chat-Gruppen der AfD-Bundestagsfraktion oder auch der Daten-Klau des Hackers Orbit bei Promis und Politiker*innen wurde über „STRG_F“ bekannt. Als Sender Funk sind alle jungen Formate mittlerweile auch in der ARD-Mediathek abrufbar. Unter dem Label „Rabiat“ laufen sie als „multimediale Reportagen“ auch im linearen Fernsehen.
Die Video-Reportagen bei „STRG_F“ und „Y-Kollektiv“ sind ein großer Erfolg, aber nicht unumstritten. Die „STRG_F“-Reportage über den Hacker Orbit wurde nachträglich korrigiert, weil der Beitrag sein privates Umfeld zu detailliert zeigte. Erst im Mai wurde der Film „30 Tage Challenge: So schwierig war es, keinen Alkohol zu trinken“, ebenfalls von Reporterin Carolin von der Groeben, vorübergehend aus dem Netz genommen, nachdem Vorwürfe der Verherrlichung von Alkoholkonsum überhandgenommen hatten. Auch das ist Teil der neuen Formate: Heftige Reaktionen, Shitstorms, Fragen und Kommentare, aber auch Emojis, lachende Smileys und fliegende Herzen.
Konsequent hat die Redaktion den Kanal „Y-2“ eingeführt, über den Macher*innen auf Fragen zu ihren Reportagen antworten oder in Making-ofs die Entstehung eines Beitrags offengelegt und kritisch reflektiert wird. „Das Sender-Empfänger-Prinzip wandelt sich immer mehr zum offenen Diskussions-Format, bei dem weniger journalistische Formate konsumiert werden als vielmehr mit einem Beitrag eine Debatte angestoßen wird, in der Journalist*innen und Nutzer*innen in Austausch treten“, erklärt Helge Haas, bei Radio Bremen Leiter des Programmbereichs „Pop & Digital“ und damit unter anderem für die Funk-Angebote redaktionell verantwortlich. So beantwortet Carolin von der Groeben in der Q&A-Folge zu „Gore-Videos“ konkrete Fragen der „Community“, erklärt ihre Arbeitsweise bei der Suche nach Gewaltvideo-Süchtigen und räumt ein, dass sie ihren Fokus auf das Netzwerk „Pr0gramm“ besser hätte erklären müssen. Von der Groeben macht daraus keinen Hehl, dass die Kritik der Nutzer*innen sie provoziert und lässt es sich nicht nehmen, auch den vielen Hass-Kommentaren zu ihren angeblich fettigen Haaren zu begegnen: „Ich weiche meine Haare jeden Abend in Olivenöl ein, das ich morgens auswasche. Sie sind also nicht fettig!“
Ist das Voyeurismus, der auf hohe Klick-Zahlen schielt, aufbereitet von jungen Journalist*innen, die mit sozialen Medien im Selfie-Modus aufgewachsen sind? Oder sind das neue journalistische Formate, die den trockenen Distanz-Journalismus hinter sich lassen, emphatisch berichten und die Subjektivität der Reporter*innen selbstreflektiv zum Thema machen? Und verändern sie somit die Medienlandschaft, weil die Nutzer*innen mit ihnen älter werden? „Unsere Herzkammer ist und bleibt die Recherche“, sagt Dietmar Schiffermüller, beim NDR Redaktionsleiter von „STRG_F“. „Unser Ziel ist es, Öffentlichkeit für wichtige Themen zu schaffen und dabei das klassische Recherche-Handwerkszeug anzu- wenden. Was sich vielleicht geändert hat, sind die Dramaturgie und die Präsentation.“ Das subjektive Erleben der Journalist*innen stehe heute mehr im Fokus, was durch Verbreitungskanäle wie YouTube vorgegeben werde. „Aber das bedeutet nicht, dass damit Meinungsjournalismus betrieben wird“, stellt Schiffermüller klar. Und durch die Rückmeldungen von Nutzer*innnen, die soziale Medien ermöglichen, ändere sich der Blick auf die Menschen, für die Geschichten über Recherchen erzählt werden. „Die frühere Asymmetrie zwischen Produzent und Rezipient wird mit unseren neuen Formaten ein Stück weit aufgehoben durch die Rückkoppelung mit den Reaktionen unserer Nutzer*innen“, sagt Schiffermüller. „Ich finde, dass die Geschichten dadurch besser werden, weil wir auf Augenhöhe berichten können.“
Dass die Form den Inhalt mitpräge, räumt Marco Otto, Leiter der NDR Programmgruppe „Portfolio, Innovation und Channelmanagement“, ein: „Auf allen Ausspielwegen, aber insbesondere auf YouTube, Instagram, TikTok & Co bestimmt die jeweilige Plattform mit ihren spezifischen Features und Nutzungsszenarien die Form, in der man
die Zielgruppen ansprechen muss – genau wie die Auswahl der Inhalte. Wichtig sind für uns in jedem Fall die handwerklichen und journalistischen Standards, die überall gleichermaßen gelten.“ Die Formatent- wicklung müsse schon auf den jeweiligen Ausspielweg eingehen, so dass zum Beispiel Entwicklungen für die ARD Mediathek teilweise anderen Kriterien folgten als für das lineare Fernsehen oder das Radio.
Was Dietmar Schiffermüller, der seit zwölf Jahren auch das NDR-Dokuformat „Panorama – die Reporter“ leitet, mit dem neuen Format „STRG_F“ und vielen Reaktionen der Zuschauer*innen gelernt habe: „Die Leute wollen nicht angeleitet werden, sondern recherchierte Befunde vorgelegt bekommen, um sich dann ein eigenes Urteil zu bilden.“ Rund 75 Prozent der „STRG_F“-Nut- zer*innen gehörten der Zielgruppe „unter 34 Jahre alt“ an, berichtet Schiffermüller. „Aber wir erreichen auch Ältere.“ Der Journalist hat mit dem durchschlagenden Erfolg nicht gerechnet. Der Redaktion sei es gelungen, eine publizistische Marke zu schaffen, die auch schon gemeinsame Recherche-Projekte mit Spiegel oder Zeit hatte. Schiffermüller: „Unser Motto für die Zukunft: Weiter relevante Recherchen!“ Man habe einen anderen journalistischen Ansatz gewählt, der besser zur jungen Zielgruppe und zur Plattform passe: „Deshalb zeigen wir nicht nur die Welt, wie wir sie sehen, sondern wir zeigen auch die Recherche dafür und die Haltung der Journalist*innen“, betont Helge Haas bei Radio Bremen. „Diese emotionale Anknüpfung verlangen die Nutzer*innen, weil sie ihnen dabei hilft, die Recherche-Ergebnisse für sich besser einzuordnen und zu bewerten.“ Auch Haas ist sehr zufrieden mit der Entwicklung von „Y-Kollektiv“: „Vor sechs Jahren standen wir allein auf weiter Flur, mittlerweile sind wir das erfolgreichste Reportage-Format im Netz.“ „Y-Kollektiv“ gibt es auch als Podcast, auf Instagram werden Clips veröffentlicht. In Clubs werden Filme in Anwesenheit der Autor*innen aufgeführt und mit dem Publikum diskutiert. „Wir bauen Y-Kollektiv zu einer 360-Grad-Marke auf“, verrät Helge Haas. „Und damit sind wir schwer beschäftigt.“
Marco Otto, Leiter der NDR Programm- gruppe „Portfolio, Innovation und Channel- management“ betont dabei im Gegensatz zu Netz-Kanälen wie YouTube die Werbefreiheit: „Die Verbreitung von Inhalten auf Social Media- und Drittplattformen ist für uns im NDR grundsätzlich kein Selbstzweck, kein generelles Ziel. Am liebsten erreichen wir die Menschen auf unseren eigenen, öffentlich-rechtlichen Plattformen, die unabhängig sind vom Einfluss von Algorithmen und kommerziellen Interessen anderer Konzerne“, sagt Otto. Deren Geschäftsmodelle beruhten in der Regel auf dem Sammeln von Nutzungsdaten und dem damit verbundenen Werbegeschäft. Sehr viele Menschen nutzten inzwischen nonlineare Verbreitungswege und digitale Plattformen, die es ermöglichen, sich über die Inhalte auszutauschen und Communitys zu bilden. „Von daher ist es für uns wichtig, auch hier präsent zu sein, um Zielgruppen für unsere öffentlich-rechtlichen Inhalte zu gewinnen, die wir sonst nicht oder nur noch schwer erreichen.“
Florian Vollmers