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Interview

Helge Fuhst über Veränderungen bei ARD-aktuell

30.09.2021

Im Hamburg-Lokstedter Nachrichtenhaus werden TV-Formate sowie Online- und Social Media-Angebote produziert (Foto: Christina Czybik)

Vor zwei Jahren ging bei ARD-aktuell das neue Führungstrio an den Start – die NORDSPITZE sprach mit dem Zweiten Chefredakteur Helge Fuhst über prominente Abgänge, neue Formate und den „ARD-Zukunftsdialog“.

Herr Fuhst, ist Ihnen ein Stein vom Herzen gefallen, als Sie im Sommer erfahren haben, dass der Rundfunkbeitrag erhöht werden darf? Die Entscheidung ist grundlegend für unsere Arbeit. Das Bundesverfassungsgericht hat klar auf Sachsen-Anhalts Blockade reagiert. Darüber hinaus hat das Gericht uns mit auf den Weg gegeben, was für eine besondere Verantwortung wir haben in einer Medienwelt mit immer mehr Filterblasen, Deep Fakes und Desinformation. Mit Qualitätsjournalismus dagegen zu halten ist unsere tägliche Aufgabe.

Wie gehen Sie mit dem Spardruck um, dem die Öffentlich-Rechtlichen ja dennoch weiterhin ausgesetzt sind?


Bei neuen Formaten, die wir angehen, müssen wir an anderer Stelle etwas weglassen. Immer weiter „on top“ geht nicht mehr, auch Doppelarbeit können wir uns nicht leisten. Mit Blick auf die Beitragsgelder arbeiten wir effizient und achten auch im Crossmedialen darauf, Synergien zu schaffen.

Können Sie ein konkretes Beispiel für eine Einsparung nennen?
Eine lineare Vormittagsausgabe von mehr als 15 Sendungen der Tagesschau über den Tag verteilt haben wir zugunsten neuer digitaler Formate eingestellt.

Die Gewichtung von Nachrichten ist ein wichtiger Faktor – wie treffen Sie Entscheidungen darüber?
Von uns wird zwar eine gewisse Chronistenrolle erwartet, besonders die Tagesthemen haben sich jedoch deutlich wegentwickelt vom Terminjournalismus hin zu Schwerpunkten mit mehr Einordnung und Hintergründen. Dafür ist essentiell, dass in den Redaktionssitzungen intensiv diskutiert wird. Die Corona-Maßnahmen haben das erschwert, da bestand die Gefahr, dass dies zu kurz kommt...

Wie arbeiten Sie denn aktuell?

Seit März 2020 arbeitet etwa die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen in unserem Nachrichtenhaus, die andere Hälfte von zu Hause aus. Auch die Konferenzräume sind leerer als vor Corona, wer im Homeoffice arbeitet, kann sich allerdings jederzeit zuschalten. Die flexiblere Arbeitsweise hat Vor- und Nachteile. An vielen Stellen ist das Team schneller informiert, manchmal jedoch außen vor, und per Audio diskutiert es sich schwieriger.

Kommt Ihnen eine kontroverse Debatte in den Sinn?
Corona! Wann gab es schon mal eine Krise, die ausnahmslos jeden und jede in unserem Land persönlich betroffen hat? Das bringt intensive Diskussionen mit sich. Wie bei jedem Thema ist es unsere Aufgabe, trotz der persönlichen Betroffenheit objektiv zu berichten, unterschied- liche Meinungen abzubilden, basierend auf Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Vier Wochen vor der Bundestagswahl hat Pinar Atalay ihr Debüt bei RTL gegeben. Wie hat sie Ihnen als Triell-Moderatorin gefallen?

Pinar Atalay und Peter Klöppel haben gut durch das Triell geführt. Nach sieben Jahren im Tagesthemen-Team führt Pinar ihre journalistische Arbeit jetzt bei RTL fort. Dass dort nun mehr in Nachrichten investiert wird, ist gut.
Wir können jede seriöse Informationsquelle brauchen in Zeiten von Verschwörungserzählungen und Fake News. Als Konkurrenz sehen wir Nachrichtenformate der privaten Sender nicht, sondern als wichtige Ergänzung. Eine größere Auswahl mobilisiert die Zuschauerinnen und Zuschauer, sich seriös zu informieren.
Ich hoffe, dass die Privaten ihr vergrößertes Nachrichtenangebot langfristig finanzieren und halten können.

Es gab weitere prominente Abgänge. Außer Pinar Atalay haben Linda Zervakis und Jan Hofer bei Privatsendern angeheuert. Schmerzt Sie das?

Nein, solche Wechsel bringen immer auch die Chance, sich neu aufzustellen. Mit Aline Abboud haben wir eine großartige neue Kollegin für die Tagesthemen gewinnen können, die mit 33 Jahren unsere junge Generation vertritt, gebürtig aus der früheren DDR stammt und Familie im Libanon hat. Alles spannende Perspektiven für unser Team. Aber natürlich ist es schade, dass Linda Zervakis gewechselt ist. Jan Hofer haben wir im vergangenen Jahr weit nach dem üblichen Renteneintrittsalter verabschiedet, nach 34 Jahren bei der Tagesschau, in denen er die Sendung mitgeprägt hat. Dass er nun noch einmal etwas Neues wagt, ist doch wunderbar. Ohnehin sind die Zeiten vorbei, dass wir als Öffentlich-Rechtliche eine Bindung auf Lebenszeit erwarten können. Der Austausch zwischen beiden Systemen kann beide an unterschiedlichen Stellen besser machen.

RTL und Pro 7/Sat.1 setzen auf mehr Seriosität, sie wollen ihr Image aufbessern und locken vermutlich mit lukrativen Verträgen. Wie halten Sie prominente Köpfe?

Wenn auf einmal mehrere neue Nachrichtenangebote auf den Markt kommen, ist es völlig normal, dass andere Häuser abwerben. Wenn die ARD ihre Stärken ausspielt und als eine große Plattform denkt, sind wir mit Abstand der attraktivste Arbeitgeber für Journalistinnen und Journalisten und kreative Köpfe. Nachrichten-Anchor stehen bei uns nicht nur im Studio, sie produzieren auch Dokumentationen wie zuletzt Ingo Zamperoni vor den US-Wahlen über seine amerikanische Familie, einer der meistgesehenen Filme in der ARD-Mediathek und mit super Quote auch im Linearen. Ein verantwortlicher Umgang mit Beitragsgeldern erlaubt zwar nicht so hohe Gehälter wie in der freien Wirtschaft, bietet dafür aber wertvolle journalistische Ressourcen und Möglichkeiten.

Die aktuelle Sinus-Studie „Wie ticken Jugendliche?“ bescheinigt Teenagern eine neue Ernsthaftigkeit und Interesse an Politik – wie wollen Sie die jungen Zielgruppen als Zuschauer und User gewinnen?
Im linearen Fernsehen sind unsere Formate die meistgesehenen Nachrichtensendungen bei den Jüngeren. Aber es ist schon richtig, der Altersdurchschnitt im Linearen liegt bei mehr als 60 Jahren. Die Jüngeren erreichen wir noch besser über Plattformen wie Instagram und Tik Tok, da ist die Tagesschau Deutschlands größte Medienmarke. Die neue Tagesthemen-Rubrik „mittendrin“ mit regionalen Reportagen haben wir im vergangenen Jahr crossmedial gestartet – als Sendung, als ergänzende Textform auf tagesschau.de und als Insta-Story, die von bis zu 750.000 Usern angeklickt wird, meist jüngere. Um junge Menschen zu erreichen, brauchen wir unterschiedliche Ausspielwege, inhaltlich müssen wir ihre Lebenswelten abbilden, indem wir über Themen wie Schule und Ausbildungswege berichten. Außerdem lassen wir in Beiträgen jüngere Stimmen zu Wort kommen wie zuletzt in der Tagesthemen-Rubrik „Meinung“ eine Schülerin zur Pandemie-Situation der jungen Generation oder einen 22-jährigen WDR-Volontär zum Thema „Erstwähler“.

Beim „ARD-Zukunftsdialog“ wurden Nutzer*innen nach ihrer Meinung zur ARD befragt. Gibt es schon erste Ergebnisse?
Im Zukunftsdialog haben wir 140 Menschen gefragt, wie sie die ARD nutzen und was sie sich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk wünschen. Der Abschlussbericht wird im Dezember veröffentlicht. In den ersten Runden kam heraus, dass sich viele eine größere Meinungsvielfalt wünschen. Dabei geht es nicht nur um politische Sichtweisen, sondern auch um unterschiedliche Perspektiven der Lebenswirklichkeiten, zum Beispiel vom Alltag in der Großstadt oder auf dem Land. Genau dem kommen wir bereits mit der Tagesthemen-Rubrik „mittendrin“ nach, die mir sehr am Herzen liegt. Ich bin gebürtiger Niedersachse und habe sowohl in Großstädten als auch in der ländlichen Region gewohnt.

Was unternimmt die Redaktion, um eine möglichst große Bandbreite der Gesellschaft abzubilden?
Wir machen mit Pro-und-Contra-Kommentaren deutlich, dass wir in der ARD unterschiedlichste Meinungen und Perspektiven haben. Bei der Tagesthemen-„Meinung“ haben wir uns insgesamt diverser aufgestellt, die ARD lädt häufiger auch Externe ein zu kommentieren, wie kürzlich den Gesundheits- und Klimaexperten Eckart von Hirschhausen oder die großartige Esther Bejarano am Holocaust-Gedenktag, wenige Monate vor ihrem Tod. Und: Wenn wir langfristig viele Menschen erreichen wollen, müssen wir unsere Arbeit noch viel mehr erklären. Transparenz kann Vertrauen schaffen und Verschwörungsgeschichten verhindern. Wir müssen bereits Schülerinnen und Schülern vermitteln, was seriöses journalistisches Handwerk ausmacht.

Und wie gewinnen Sie journalistische Nachwuchs-Talente?
Die neun ARD-Rundfunkanstalten bilden Volontärinnen und Volontäre aus, die auch bei ARD-aktuell Station machen. Ich bin selbst diesen Weg gegangen, habe beim NDR volontiert und anschließend eine Zeit lang
bei den Tagesthemen gearbeitet, nach Jahren bin ich nun hierher zurückgekommen. Wir suchen regelmäßig freie und feste Mitarbeiter für all unsere Bereiche, von Social Media und tagesschau.de bis zur linearen Tagesschau und den Tagesthemen. Viele von ihnen kommen von extern, neue Köpfe aus anderen Medienhäusern und Strukturen bringen uns wertvolle neue Impulse.

Das Gespräch führte Claudia Piuntek.

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