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Drei Beispiele für frische Projekte aus Norddeutschland

Die Stunde der Pioniere


Die Zeiten für journalistische Experimente waren nie so gut wie heute: Etablierte Medien kämpfen mit dem Strukturwandel, während das Internet freien Journalistinnen und Journalisten eine Spielwiese für Projektinitiativen bietet, die mal mehr, mal weniger erfolgreich sind. Die NORDSPITZE stellt drei Einzelkämpfer aus Norddeutschland vor.

Immer mehr Menschen im Hamburger Umland, aber auch diesseits der Stadtgrenze schauen online gerne mal auf dieser Site vorbei: die-pinnebergerin.de. Ein buntes  Lifestyle-Magazin, das inmitten zahlreicher Online-Anzeigen über Veranstaltungen, Shopping-Möglichkeiten, Reise-Tipps und Menschen rund um die schleswig-holsteinische Kreisstadt Pinneberg bis hinein in den Großraum Hamburg informiert. „Mittlerweile sind wir in der Gegend relativ bekannt, auch bei potentiellen Anzeigenkunden und Entscheidern“, berichtet Redakteurin Birgit Schmidt-Harder, die das Online-Magazin gemeinsam mit Maike Heggblum als geschäftsführende Gesellschafterin betreibt. „Unsere Leserschaft geht weit über Pinneberg hinaus. Vierzig Prozent lesen uns in Hamburg“, sagt Schmidt-Harder. „Wir haben uns für das Lokale entschieden. Wir leben hier. Unsere Kunden leben hier. Und die Kunden unserer Kunden.“

Die-pinnebergerin.de versteht sich als „digitales Stadtmagazin im Onepager-Look“. Veröffentlicht werden Presseartikel, Artikelserien, Event-Berichterstattung inklusive Fotogalerien und PR-Beiträge, ein umfangreicher und benutzerfreundlicher Event-Kalender sowie Anzeigen. Herzstück und Namensgeberin ist die Kolumne „Die Pinnebergerin“. „Unsere Artikel und unsere PR-Berichte sind anders, als man es sonst aus dem Lokaljournalismus kennt“, sagt Birgit Schmidt-Harder. „Sie sind magazinig: unterhaltsam, witzig, bunt, teilweise sogar frech und vor allem optisch opulent und sehr viel aufwendiger als 80 Zeilen und ein Foto.“

 

Das Konzept trägt sich: Über Anzeigen können Birgit Schmidt-Harder und Maike Heggblum ihr Online-Magazin komplett finanzieren. „Unsere Kosten sind gering. Wir brauchen kein Papier, keinen Druck und keinen Grossisten oder Zusteller“, so Schmidt-Harder. „Uns kann jede und jeder lesen. Es gibt keine Paywall oder die Pflicht, ein Abo abzuschließen. Wir sind rein anzeigenfinanziert.“ Den Erfolg von die-pinnebergerin.de
erklärt Birgit Schmidt-Harder mit den Inhalten: „Wir laufen keinen News hinterher, die in den sozialen Medien schon längst Geschichte sind, und haben uns von der Chronistenpflicht der Tagespresse befreit. Was wir machen, macht Spaß. Mit uns macht sogar PR Spaß“, sagt die Redakteurin. „Wir probieren Dinge aus, können über uns selbst lachen. Das ist für lokale Kunden und Leser eine sehr erfrischende Erfahrung, die sie lange nicht mehr gemacht haben.“

Oftmals schwanken Projektinitiativen von freien Journalisten zwischen klassischer Agentur-Dienstleistung und rein journalistischen Inhalten, weiß Leif Kramp vom Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der Universität Bremen, der gemeinsam mit Andreas Hepp und Wiebke Loosen eine neue Studie zum „Pionierjournalismus“ vorbereitet (siehe Kasten). „Dabei waren die Zeiten, neue Kommunikations- und Darstellungsformen und technische Tools auszuprobieren und damit journalistisch zu experimentieren, noch nie so aussichtsreich wie heute“, sagt Forschungskoordinator Kramp. „Es ist einfacher denn je, sich zum Beispiel über eigene, miteinander vernetzte Social Media-Auftritte ein klares Profil als Freier zu erschaffen und darüber sowohl ein eigenes Publikum als auch Auftraggeber zu erreichen, denn letztere suchen nach innovativen Ideen für digitalen Journalismus und nach kreativen Köpfen.“ Grund für diese Goldgräberstimmung sei auch, dass die Strukturen im Redaktionsalltag etablierter Medienhäuser innovativen Projekten häufig immer noch im Wege stünden. „Doch es ist zwingend notwendig, neue Formen der Zusammenarbeit und neue Formate zu erkunden“, urteilt Leif Kramp: „Denn oft konzentrieren sich junge journalistische Formate bei den Etablierten eher auf einer visuellen Ebene, aber bieten nur selten neue Ansätze in der Recherche oder bei den Inhalten.“ Eine weitere Frage betrifft die Wirtschaftlichkeit: „Experimentierfreudige Start-ups haben es noch schwer angesichts eines trotz fallender Auflagen weiterhin stabilen Pressemarkts“, bilanziert Kramp.</figure>

 

Holger Kreymeier, Geschäftsführer der Altersfilm GmbH in Hamburg, hat für seine Webseite inzwischen mehr als 3000 zahlende Abonnenten gewonnen: „Wir machen keine Riesengewinne, können aber die monatlichen Ausgaben decken.“ Kreymeier betreibt den Online-Sender Massengeschmack-TV, der wie Netflix funktioniert: Für den monatlichen Grundbetrag von 6,99 Euro erhalten Nutzer Zugang zu eigenproduzierten Formaten mit Talk, investigativem Journalismus, aber auch Unterhaltung und Comedy. Bereits im Jahr 2013 konnte Holger Kreymeier mit „Massengeschmack-TV“ ein eigenes Studio beziehen. „Das war schon etwas Besonderes, sich einen solchen Traum zu erfüllen“, erzählt Kreymeier. Zuvor hatte er bereits jahrelang das erfolgreiche Online-Magazin Fernsehkritik-TV betrieben, für das er unter anderem einen Grimme-Preis erhalten hat. „Meine Idee war es, die große Community dahinter mitzunehmen, um einen ganzen Sender aufzumachen. Unser Alleinstellungsmerkmal liegt heute sicherlich darin, dass es so etwas wie Massengeschmack-TV in Deutschland sonst nicht gibt: einen Sender, der werbefrei und ohne einen großen Player als Geldgeber fungiert. Das garantiert uns Unabhängigkeit und damit auch kreative Freiheit.“

 

Kleine Portale mit Bezahlschranke seien heutzutage leicht zu programmieren, findet Kreymeier. „Natürlich braucht man auch die Aufmerksamkeit von außen. Deswegen setzen wir durchaus auf unseren YouTube-Kanal mit rund 83.000 Abonnenten, würden aber nicht in finanzielle Probleme kommen, wenn es ihn nicht mehr gäbe.“ Gute Recherche war früher das A und O des Journalismus und wird es auch bleiben, findet Kreymeier, der mit seiner Firma weiter wachsen will, um noch höherwertige Formate produzieren zu können. „Unabhängigkeit ist ganz wichtig. Gesponserter Journalismus ist kein Journalismus, sondern Werbung oder vielleicht gar Propaganda.“

 

„Der Trend geht eindeutig zu Gucken on demand“, findet auch Anneke ter Veen, die seit 2016 die eigene Talk-Show „Budder bei die Fische – Der Ter Veen Talk“ produziert. „Aus diesem Grund wollen wir uns auch breiter auf YouTube aufstellen und die Relevanz dieser Medienplattform stärker nutzen.“ Mit ihrem Talk will sich ter Veen „gegen Dschungel-Verblödung und Trash-TV“ absetzen, „denn bei uns kann man sich von den Themen und Gästen eine Scheibe abschneiden und für seine eigene Persönlichkeitsentwicklung nutzen“, so Anneke ter Veen, die ausdrücklich „Vorbilder“ interviewt. „Ich möchte mit meinen Sendungen inspirieren, zum Nachdenken anregen, Wissen vermitteln und eigenverantwortliches Handeln fördern.“ Im März hatte „Budder bei die Fische“ beispielsweise die Paar-Therapeutin Melanie Mittermaier zu Gast, in der Sendung davor den Pädagogen und Hypnose-Coach Andreas Winter. „Viele Menschen reagieren sehr positiv darauf, dass wir Gäste zeigen, die sonst nicht in Talkshows zu sehen sind. Dass die Themen immer nah am Menschen dran sind und für jeden was dabei ist“, erzählt Anneke ter Veen.

 

Die Online-Talkerin ist seit mehr als zehn Jahren als Moderatorin und TV-Redakteurin tätig: Sie hat den regionalen Fernsehsender center.tv Bremen und Bremerhaven sowie DRF1 mit aufgebaut, eine Nachrichten-Websendung für den Zeitungsverlag Weser-Kurier präsentiert sowie zuletzt bei R.SH – Radio Schleswig-Holstein moderiert. „Ich habe so viel Willkür und Quotenhetze erlebt, wo der Mensch als Arbeitnehmer nicht viel zählte, da wollte ich ein Zeichen für wertvolle Unterhaltung setzen und den Menschen in den Fokus rücken“, so ter Veen. Im Moment finanziert die Unternehmerin ihren Talk noch alleine und generiert durch Tickets einen kleinen Betrag. „Das reicht noch nicht, dass sich alles selber trägt. Ich arbeite natürlich daran, dass sich die Kostendeckung irgendwann einstellt oder sich aus einer zuverlässigen Quelle dauerhaft speist.“ Anneke ter Veen wünscht sich eine überregionale Präsenz. „In gewisser Weise haben wir das auch schon erreicht, da man den Schweizer Sender, über den wir ausstrahlen, über den Satelliten Astra empfangen kann, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz“, berichtet sie. „Gerne würde ich aber in Deutschland mit einem nationalen Sender kooperieren.“ Anneke ter Veen glaubt, dass Menschen sich nach authentischen Sendungen und Themen sehnen. „Es wird eine Rückbesinnung auf Werte geben, weil so viele Unwahrheiten durch den Äther schwimmen.“

 

Zugleich ist TV-Talkerin Anneke ter Veen davon überzeugt, dass Journalismus und „Wissensbeschaffung on demand nur nach eigenen Interessen“ auch kritisch betrachtet werden müssen: „Ist man nur noch von Gleichgesinnten umzingelt und liest und guckt nur noch das, was einen selbst interessiert, dann wird nicht mehr über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut“, findet ter Veen. „Wie sollen daraus noch wegweisende Gedanken geschöpft werden? Eine schwierige Situation, wie ich finde.“ Dass heute jeder Mediennutzer seinen eigenen Weg durch das Chaos der Digitalisierung und der Zeitungs- und Medienkrise suchen muss, findet auch die Pinnebergerin Birgit Schmidt-Harder. „Dabei ist das Interesse an lokalen Inhalten und dem Geschehen vor der eigenen Haustür nach wie vor ungebrochen.“ Verlierer des derzeitigen Umbruchs seien die Eigentümer von Infrastrukturen, also die Verlage, die Druckereien, die Distributoren, die Anbieter von Abos. „Uns erstaunt der Zorn darüber, dass die Welt es wagt, sich zu ändern“, sagt Birgit Schmidt-Harder. Google sei schuld, weil es Inhalte verbreitet. Die ARD sei schuld, weil sie Inhalte kostenlos online stellt. Und Social Media sei überhaupt an allem schuld. „Mal ehrlich, was hat man denn in den Chefetagen gedacht? Dass alles so bleibt wie immer?“, fragt die Betreiberin von die-pinnebergerin.de.

 (Text: Florian Vollmers / Fotos: Beate C. Koehler, massengeschmack.tv, www.budder-bei-die-fische.tv)

Neue Studie zu „Pionierjournalismus“

Im Mai 2019 startet ein gemeinsames Forschungsprojekt über „Pionierjournalismus“ des Zentrums für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der Universität Bremen und des Leibniz-Instituts für Medienforschung Hans-Bredow-Institut mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG): Unter dem Titel „Die Re-Figuration der Organisation(en) des Journalismus“ werden individuelle Akteure, Start-ups und etablierte Medienorganisationen im Pionierjournalismus untersucht und ihre Vorstellungen von neuen Formen des Journalismus typisiert. Dabei sollen auch die organisatorischen Grundlagen beschrieben werden, in denen Pionierjournalismus möglich ist. Durch eine qualitative Netzwerk- und standardisierte Twitter-Analyse soll darauf aufbauend das Netzwerk von Pionierjournalisten beschrieben werden, über das möglicherweise eine übergreifende journalistische Pioniergemeinschaft besteht. Schließlich werden diese Forschungsergebnisse für eine übergreifende Analyse der organisatorischen Grundlagen von Journalismus angewendet mit dem Ziel, Muster der gegenwärtigen Transformation zu beschreiben.

fv

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